Erschienen am 13. April 2010


Es knittert, wirft Falten – und hält einiges aus

Zur Mailänder Möbelmesse: Papier mag aus den Büros verschwinden, im Design wird es immer wichtiger als Material für Taschen und Sofas

Nein, aufhalten lässt sich der lang angekündigte Medienumbruch, der sich gegenwärtig vollzieht, nicht mehr. Man muss sich aber keine Sorgen machen, dass die alten, scheinbar überholten physischen Medien durch die Verlagerung ins Digitale ganz verschwinden. Ihre Form und Funktion müssen nur neu interpretiert und definiert werden. Nur weil wir zum Beispiel immer seltener papierene Briefe schreiben, die wichtigsten Nachrichten als erstes von einem Bildschirm ablesen und papierene Bücher ernsthafte Konkurrenz bekommen, ist der bisher wichtigste Schrift- und Bildträger, das Papier, noch lange nicht Schnee von gestern. Im Gegenteil, der Papierverbrauch steigt immer weiter an, ganz anders als es die Prognose vom „papierlosen Büro“, die Forscher in Palo Alto bereits 1975 formulierten, vorausgesagt hat. Umso aufschlussreicher ist es, wie die Designer auf den medialen Umbruch reagieren: Sie haben das Papier als Material neu entdeckt und setzen es heute viel experimenteller ein als bisher, losgelöst von seinen ursprünglichen Funktionen und Zusammenhängen. Es dient ihnen nicht mehr nur als Entwurfs- und Modellbaumaterial, sie machen gleich Endprodukte daraus. Wie der Japaner Tokujin Yoshioka, der sein Sofa Paper Cloud („Papierwolke“) aus besonders stabilen, wellig gerafften Papierbögen aufschichtet. Oder das Londoner Designstudio Raw Edges, das das papierartige Textil Tyvek für seine Sessel und Stühle origamiartig faltet und so lange mit PU-Schaum füllt, bis sich erstaunliche Volumen ergeben. Die luxuriöse Möbelkollektion, die Studio Job aus Belgien für Moooi entworfen hat, besteht aus weißem Papier über einem Kern aus Holz und Karton, das mit einem Schutzlack überzogen wird. Und die Argentinierin Ruth Gurvich gestaltete ein Service für die Porzellan Manufaktur Nymphenburg, indem sie Papiermodelle direkt auf Porzellan übertrug – mitsamt der typischen Knicke, Faltungen und Flächenspannungen; gefertigt wird es jetzt aus hochmattem unglasiertem Biskuitporzellan, auf dessen Oberfläche sich sogar noch die Faserstruktur des Papiers abzeichnet.

Was all diese Entwürfe so reizvoll macht, ist ihre modellhafte Ästhetik, ihre vorläufige, fragile Erscheinung. In ihnen steckt der Ursprung des kreativen Aktes: das Potential, das ein blütenweißes leeres Blatt Papier ausstrahlt, die Schönheit von Papiermodellen, die nach wie vor die schnellste, einfachste und günstigste Möglichkeit für Designer sind, eine Idee dreidimensional umzusetzen. „Papiermodelle speichern auf wunderbare Weise die Spuren des Entwerfens“, hat Konstantin Grcic einmal gesagt. Einigen seiner Produkte und Möbel ist deutlich anzumerken, dass er sie ohne Umweg vom Papiermodell auf Kunststoff und Metall übersetzt hat; man sieht es an den scharfen Kanten und den sperrig-expressiven Formen. Wer aus einem zweidimensionalen Material wie Papier etwas Dreidimensionales formt, muss mit Einschränkungen leben, mit Vereinfachungen und der Flächenhaftigkeit, die auch noch dem gebogenen und gefalteten Papier anhaftet. Diese Papierästhetik findet sich nicht nur in den papierenen Rekonstruktionen von Thomas Demand, sondern seit kurzem auch auf einem anderen gestalterischen Gebiet wieder: Grafikdesigner wie Pixelgarten aus Frankfurt oder der Kanadier Julien Vallée transferieren das Virtuelle wieder zurück ins Reale und bauen papierene Installationen und Illustrationen, die dann abfotografiert oder ausgestellt werden. Eine Erweiterung des Grafikdesigns um die dritte Dimension, die dem digitalen Sog ebenfalls die sinnlich-materielle, haptische Erfahrung dagegenhält.

Jahrhundertelang war Papier das wichtigste Trägermaterial für die Vermittlung und Überlieferung von Schrift und Bild, für unser gesamtes Wissen. Daneben, im 19. Jahrhundert, später noch in Kriegs- und Krisenzeiten, diente es auch als Surrogat, als billiger Ersatzstoff, mit dem sich wertvollere und beständigere Materialien wie Leder, Holz und Marmor imitieren ließen; in Schloss Ludwigslust etwa wurden selbst die Stuckverzierungen in Pappmaché ausgeführt. Inzwischen jedoch gilt das Zivilisationsprodukt Papier vor allem als banales Wegwerfmaterial. Wie lange das so bleibt, ist offen. Es ist an den Designern, dem Material eine neue Bedeutung zu geben, und hilfreich sind dabei technologische Neuentwicklungen wie feuerfestes Papier, Papierschaum und sogar Keramikpapier. Gerade wird auch ein Papier wiederentdeckt, das eigentlich gar keines ist: Tyvek, ein Vlies aus feinsten Polyethylenfasern, das Dupont bereits 1955 erfunden hat und das bisher für die Produktion von Reinraumanzügen, Werbebannern und Versandtaschen eingesetzt wurde. Es sieht aus wie Papier und fühlt sich auch ganz ähnlich an, ist aber extrem reißfest, wasserabweisend und besonders strapazierfähig. Der Münchner Designer Stefan Diez hat daraus eine ganze Taschenkollektion entworfen, die trotz ihrer klassischen Schnitte höchst ungewöhnlich wirkt. Die Taschen sind extrem leicht, und ihre Oberfläche verändert sich je nach Gebrauch, sie knittert, wirft Falten, mit der Zeit bekommt sie eine Patina; die Veredelung des Materials mit einem homogenen Siebdruck verstärkt den frappierenden Papiereffekt noch. Demnächst will Diez mit Tyvek auch größere Volumen konstruieren, etwa Möbel, die sich der üblichen Materialität völlig entziehen. „Wir müssen unsere Vorstellungen davon überdenken, was hochwertig ist und was nicht“, findet er. Die Aufwertung des Materials Papier steht bevor.

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